Flagge von Rußland

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(c) 1992 Oliver Bonten

Völlerei

"Die Deckung eines großen Nachholbedarfs hat bewirkt, daß Millionen Moskauer in den letzten 15 Jahren in eine Neubauwohnung einziehen konnten, die ihnen viele Annehmlichkeiten des modernen Lebens bietet." - Reiseführer undefinierter Herkunft

Für russische Verhältnisse hatte Jegor (geschrieben E-Gamma-O-P) eine ganz ordentliche Wohnung. Sie lag in einem etwa zehngeschossigen Haus am Rande einer Hochhaussiedlung mit vielen noch größeren Häusern. Jegor wohnt im zweiten Stock. Das heißt, eigentlich wohnt er noch in der Wohnung seiner Mutter im sechsten Stock desselben Hauses, zusammen mit seinem Bruder Andrej, aber nach einer Warteliste hatte seine Mutter vor ein paar Jahren diese Wohnung bekommen und weil man solche Gelegenheiten nicht entkommen läßt und Jegor alt genug für eine eigene Wohnung war ist er offiziell dort eingezogen. Die Wohnungen dort sind eine Art Eigentumswohnungen, Jegor hat sie für ein paar Tausend Rubel bekommen, was damals ein hoher, aber erschwinglicher Preis war. Heute ist diese Wohnung ein Vermögen wert. Sie besteht aus einem größeren Zimmer, einer etwas kleineren Küche mit Gasherd und Wasser, aber ohne Kühlschrank, und einem kleinen, ziemlich heruntergekommenen Bad. Wohnungen mit eigenem Bad und eigener Küche sind noch nicht selbstverständlich in Moskau. Für Strom, Gas, Wasser und Müllabfuhr braucht Jegor nichts zu bezahlen, das hat er schon mit dem Kauf der Wohnung auf Lebenszeit abgegolten. Der Wasserhahn in der Küche läuft ständig, aber ein Klempner ist noch nicht gekommen - das ist das Problem der Wohnungsverwaltung, nicht Jegors. Mehr irritiert hat mich, daß der Gasherd ein ähnliches Problem hat. Aber während wir da waren ist das Haus nicht in die Luft geflogen. Die Wohnung war noch nicht sehr eingerichtet, weil eigentlich noch niemand da wohnte. Wir haben uns dann zu fünft in dem Zimmer ausgebreitet, dafür war genug Platz. Auf dem Boden lag ein Bärenfell, den Bären hat Jegors Vater in Sibirien geschossen, falls Jegor ihn uns nicht aufgebunden hat.

Eingangsbereich und Flur des Hauses waren sehr düster und heruntergekommen. Durch das Treppenhaus zog sich ein langer Schacht - das war der Müllschlucker. Klappen gab es auf jeder zweiten Etage. Es gab auch zwei Lifte, von denen einer aber nicht funktionierte, als wir kamen (später schon), aber die habe ich, wenn es irgend ging, vermieden. Schließlich wohnten wir nur im zweiten Stock. Die Lifttüren wurden mit Klinken geöffnet und geschlossen und hatten keine Fenster, nur Luftlöcher. Die Türen der Kabine mußte man ebenfalls von Hand schließen. Beim Betreten sah man durch den etwa 10 cm breiten Spalt zwischen Kabine und Wand in den Schacht. Das Fahrgeräusch war auch nicht vertrauenerweckend.

Zum Mittagessen, und wie Alexander uns erzählte, auch zum Abendessen, waren wir bei Danjukows eingeladen. Die Wohnung von Jegors Mutter hat ein Zimmer mehr als Jegors und ist bei weitem nicht so verfallen. Sie ist nur relativ klein, verglichen mit deutschen Verhältnissen. Die Wände werden teilweise von Teppichen statt von Tapeten geziert. Dort gab es auch einen Kühlschrank und ein Telefon. Zu Mittag gab es Borschtsch und Spiegeleier. Borschtsch ist eine Suppe mit Roter Bete und Kartoffeln, neben gewissen anderen Einlagen, und sehr gut. Alexander hatte uns gewarnt auch ja alles aufzuessen, was aufgetischt wird, weil das in Rußland so Sitte sei, und das war gar nicht so schwer. Danach gab es noch Tee und gewisse Süßigkeiten.

Nach dem Essen wollten Alexander und Jegor mit Jegors Auto durch Moskau fahren, um diverse Geschenkpakete zu Alexanders Freunden zu bringen. Währenddessen fuhren wir anderen mit Andrej schon einmal in die Stadt. Etwa zehn Minuten vom Haus entfernt liegt eine Metrostation. Jegor sagte, daß die Fahrt mit der Metro 50 Kopeken koste, inzwischen war es aber schon ein Rubel geworden, aber das ist natürlich immer noch ein Witz (1,5 Pfennig). Man kauft Metallmarken an einem Schalter und wirft diese in den Sperrenautomaten. Die Marken sind etwa so groß wie alte Fünfkopekenstücke, früher hat die Fahrt nämlich einmal fünf Kopeken gekostet. Dann fuhr man über eine scheinbar endlose Expressrolltreppe hinab - die U-Bahn ist sehr tief unter der Erde - in einen riesigen weißen Betontunnel, der die Bahnsteige enthielt. Andere Stationen in der Stadt waren schöner, Arbatskaja etwa hatte Stuckverzierungen und Kronleuchter, und am Platz der Revolution waren Plastiken von Revolutionären, die zusammen eine Kampfszene bildeten, in die Mauern eingearbeitet. Sozialistischer Realismus, aber sehr eindrucksvoll gemacht. In vielen Dingen erinnerte die Metro an die Londoner Tube, die Züge sahen ähnlich aus, fuhren durch Tunnel, durch die sie gerade durchpaßten, und wer den einen Linienplan verstand, verstand auch den anderen. Außerdem haben einige Linien genau wie bei der Tube das Problem, daß kurz vor Erreichen eines Bahnhofs das Licht für den Bruchteil einer Sekunde ausgeht, aber das Tube-typische Bremsenrattern habe ich nicht gehört. Wann der nächste Zug kommt, stand auf keiner Anzeigetafel, dafür gab es aber eine Anzeige, wie lange es her ist, daß der letzte Zug abfuhr. Meist zeigte diese zwischen zwei und drei Minuten an, wenn ein Zug einfuhr, auch nachmittags und nachts. Wegen der Größe Moskaus sind die Strecken zwischen zwei Stationen sehr groß, aber die Metro ist ziemlich schnell. Jegor rät allerdings davon ab, die Metro nachts alleine zu benutzen.

Metrostation

Zunächst hat uns Andrej auf den Arbat geführt, das ist eine Art Flohmarkt auf der gleichnamigen Straße, parallel zum Kalininprospekt. Dort blüht offenbar der Schwarzmarkt, Gelegenheiten zum Geldumtausch gab es genug, aber Jegor und Andrej rieten davon ab, bei jemandem zu tauschen, den man nicht kennt (problematisch, wenn man fremd ist), weil man nie weiß wer wem weitererzählt, daß da jemand bündelweise DM oder $ in seiner Tasche hat. Dort gab es im wesentlichen alles zu kaufen, Souvenirs wie Matrioschkas (sowohl die konventionellen als auch moderne, wo Jelzin Gorbatschow enthält, der Breschnew enthält, der Kruschtschow enthält, der ... bis zurück zu Alexander dem zweiten). Samoware gab es (unverschämt teuer), Wodka, Eis, Pizza, Bier, Pepsi. Wir haben Postkarten gekauft, die man in Moskau nur im Paket zu 10, 12 oder 18 Stück bekommt. Die Motive waren meist phantasielos. Wir haben noch das beste Paket, das wir finden konnten, gekauft, 18 Karten für 200 Rubel - etwas mehr als 3 Mark, das erschien uns ein akzeptabler Preis. Später, im GUM, haben wir Pakete mit viel besseren Motiven für 31,95 Rbl gesehen. Abzeichen und Uniformteile der roten Armee gab es ebenfalls zu Hauf. Zweimal bedeutete uns Andrej, still zu sein, da hatte er wohl etwas oder jemanden gesehen, der ihm nicht gefiel. Das Porto für die Postkarten beträgt übrigens 3,50 Rbl.

Roter Platz

Der Arbat endet im Arbatplatz, wo er den Kalininprospekt trifft. Der führt dann weiter zur Kremlmauer in der Nähe des Haupteingangs, und geht man diese entlang, kommt man auf den roten Platz. Der Hauptteil des roten Platzes wird von der Kremlmauer, dem Leninmuseum (nicht zu verwechseln mit dem Leninmausoleum, das an der Kremlmauer steht), dem Kaufhaus GUM und der Basiliuskathedrale begrenzt. Unterhalb der Kathedrale ist aber noch ein Stück roter Platz, bis zum Moskwaufer. Der rote Platz ist gar nicht rot, sondern Grau gepflastert. Rot ist allerdings die Kremlmauer, die Bibliothek und die Basiliuskathedrale. Daher hat der Platz aber nicht seinen Namen, der rührt viel eher daher, daß das alte russische Wort für "schön" heute "rot" bedeutet. Deshalb haben auch in russischen Märchen so viele Mädchen rote Haare. Verschiedentlich stehen Gitter auf dem roten Platz, vielleicht um Flugzeuglandungen zu verhindern. Im Volksmund wird der rote Platz jedenfalls auch "Scheremetjewo 3" genannt; Scheremetjewo 1 und 2 sind die beiden Flughäfen von Moskau. Die Basiliuskathedrale ist enttäuschend klein, und in wirklichkeit besteht sie aus neun kleinen Kirchen, denen jeder einer der Zwiebeltürme gehört. Aber sie sieht sehr interessant aus, mit ihren Zwiebeltürmen und ihrer bunten Bemalung ganz anders als Kirchen bei uns für gewöhnlich aussehen. Das Leninmausoleum machte einen geschlossenen Eindruck, aber noch immer patroullierten Wachen im Stechschritt davor. An diesem Tag hatten wir nicht viel Zeit uns alles genau anzusehen und mußten schon bald zurückfahren. Dazu wollten wir einen Oberleitungsbus nehmen, unter anderem deshalb, weil Andrej ganz begeistert war, daß es in Moskau etwas gab, was es bei uns nicht gab. Dabei gibt es in Moskau vieles, was es hier nicht gibt, und Oberleitungsbusse gehören vielleicht nicht zu den faszinierendsten dieser Dinge. Der Bus brauchte 45 Minuten, viel länger als die Metro, aber dafür fuhr er bis fast vor die Haustür. Besonders leise war der Bus nicht, trotz Elektromotor, und das Gelenk quietschte ordentlich. Eine Fahrt mit dem Bus kostet 50 Kopeken. Der Bus fährt alle neun Minuten in Spitzenzeiten und alle 15 Minuten nachts, sonntags etc.. Unterwegs hat Andrej noch eine Flasche Trojka, russisches Bier, geleert. Das ist gar nicht mal so schlecht. Sein Lieblingsbier ist ein deutsches, hat er uns gesagt, aber zu dem Zeitpunkt konnten wir noch nicht ganz herausbekommen, welches er meint. Später haben wir einmal eine Flasche davon gesehen: er meinte "Schweriner Schloß", eine selbst mir (Experte) unbekannte Marke.

Jegor und Alexander waren noch nicht zurück. Auf dem Eßtisch bei Danjukows standen drei große Schüsseln mit Gebäck, "Piroschki", eine Art kleiner Piroggen, mit Fisch, Ei und Kohl gefüllt. Die waren seeeeeehr gut - ich wollte Frau Danjukow nach dem Rezept fragen, dann hätte auch Bigfood etwas von meiner Reise gehabt, nicht nur Fernweh, aber irgendwie habe ich das in der Hektik der Abreise vergessen - und sollten uns die Zeit vertreiben, bis Alexander und Jegor kamen. Das dauerte nicht lange, so daß auch die beiden noch Piroggen bekamen, und dann wurde aufgetischt. Es gab allerlei Salate, eingelegte Gurken und Tomaten(!), eine Art Salzfleisch, Fisch und Brot. Die meisten dieser Sachen waren vorzüglich, aber das Salzfleisch war nicht ganz unser Fall und die eingelegten Tomaten waren nicht das richtige für mich. Dazu gab es Wodka (in kleinen Gläsern), und es wurden natürlich Trinksprüche ausgebracht. Ich war allerdings der einzige von uns Deutschen, der jede Runde mitgehalten hat - hat mir nicht viel ausgemacht, ich bin der geborene Wodkatrinker. Nach dem zweiten oder dritten Teller voller Salat wurde es allerdings schwieriger, mitzuhalten, und die Schüsseln waren noch nicht zur Hälfte geleert. Außer dem Fisch brachte ich schon kaum noch etwas über meine Lippen, als es hieß, wir sollten die Schüsseln binnen fünf Minuten leeren, denn dann käme das Hauptgericht. Entgeistert starrten wir uns an. Wir hatten alle gedacht, wir äßen gerade das Hauptgericht. Leer wurden die Schüsseln gewißlich nicht. Als Hauptgericht gab es Kartoffeln und Huhn, ganz konventionell und damit sind wir noch fertiggeworden. Danach gab es Tee bzw. Kaffee (der stammt offenbar aus Geschenkpaketen aus Deutschland, die Jegor hier und da von seinen Freunden bekommt), Süßigkeiten und Kuchen, alles sehr gut und seeeehr viel. Jegors Mutter schien ein wenig beleidigt, weil wir (angeblich) so wenig gegessen haben.

Solches Essen gibt es auch bei bessergestellten Russen nicht jeden Tag. Sie haben gewußt, daß wir kommen und für wichtige Ereignisse ist es möglich, diese Mengen an diesen Lebensmitteln aufzutreiben, aber der Alltag in Moskau sieht sicher ganz anders aus.

Nebenbei mußten wir noch für die Autos sorgen. Einen Mercedes-LKW läßt man nachts in Moskau nicht unbeaufsichtigt stehen, sonst fehlen am Morgen alle beweglichen Teile (Reifen, Spiegel etc.). In der Nähe des Hauses war ein bewachter Parkplatz, auf dem auch Jegor sein Auto über nacht abstellt, und der Parkwächter war schließlich bereit, für DM 30,- für die Nacht auf unsere Autos aufzupassen. Ein gewichtiger Vorteil war, daß Jegor die Wächter kannte, so daß keiner so leicht auf eigene Rechnung krumme Dinge drehen konnte. Dieser Parkplatz hatte außerdem gewissermaßen seine eigene Polizeitruppe: die Polizisten einer nahegelegenen Station pflegten während des Dienstes ihre Autos dort zu parken, und wenn sich verdächtige Gestalten auf dem Parkplatz herumtrieben, brauchte der Wärter nur dort anzurufen und die Jungs kamen gleich im Mannschaftswagen, um ihre Autos zu schützen. In der Theorie jedenfalls; in der Praxis schien es auf dem Parkplatz wenig Ärger zu geben, weil jeder potentielle Räuber Bescheid wußte. Mit unseren Autos haben sie sich trotzdem nicht wohl gefühlt, denn die waren groß genug, um weithin sichtbar zu sein, und wertvoll genug, um Leute zu Risiken zu verführen. Am nächsten Morgen mußten wir sie auch früh wieder wegstellen, weil sie anderen Autos im Weg standen.



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Dieser Reisebericht ist im Juni/Juli 1992 im Mausnetz in der Gruppe FERNWEH veröffentlicht worden. Der Text ist unverändert, lediglich die Bilder sind neu hinzugekommen - das Mausnetz hat noch keine Bilder unterstützt. Der Bericht beschreibt Moskau im Jahre 1992. Vieles hat sich inzwischen verändert.

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